Die innere Mitte finden · Lob der Tugend by Dick Andreas

Die innere Mitte finden · Lob der Tugend by Dick Andreas

Autor:Dick, Andreas [Dick, Andreas]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
ISBN: 9783280055687
Herausgeber: Orell Füssli Verlag
veröffentlicht: 2015-03-02T00:00:00+00:00


Vergebung

Mit keiner anderen Eigenschaft sanftmütiger Menschen hat sich die moderne Psychologie so eingehend beschäftigt wie mit der Fähigkeit zur Vergebung. Dabei ist es zunächst wichtig, Vergebung von gewissen Haltungen zu unterscheiden, mit denen sie gerne verwechselt wird.

Vergebung bedeutet nicht, Unrecht zu verdrängen oder zu leugnen, indem man nicht hinschauen will. Vergebung hat nichts mit einer Billigung begangenen Unrechts zu tun, denn wenn kein Unrecht vorliegen würde, so wäre auch keine Vergebung nötig. Ebenso wenig sollte Vergebung mit einem Auslöschen der Erinnerung an die erlittenen Taten verwechselt werden. »Vergeben und vergessen« ist eine ungünstige Wendung, da Vergebung eine klare Erinnerung an das subjektiv erlebte Unrecht voraussetzt. Vergebung ist auch nicht mit einer rechtlichen Freisprechung identisch. Ob jemand im rechtlichen Sinne schuldig oder frei gesprochen wird, ob er wirklich ein Unrecht begangen hat oder nicht und ob wir jemandem subjektiv vergeben oder nicht, sind drei verschiedene Dinge. Vergebung ist auch nicht das Gleiche wie Gnade. Erstere geschieht im zwischenmenschlichen Bereich, während Gnade nur von einer höher gestellten Instanz ausgehen kann, wie einem König oder einer Richterin. Schließlich ist Vergebung auch nicht gleichbedeutend mit zwischenmenschlicher Versöhnung. Allerdings ist für einen wirklichen und dauerhaften Friedensschluss zwischen streitenden Parteien eine gegenseitige Vergebung meist unerlässlich.

Jemandem zu vergeben bedeutet, dass man eine Folge bestimmter Verwandlungsprozesse in den eigenen Motiven gegenüber dieser Person durchlebt, die von Feindschaft, Hass, Unversöhnlichkeit und Rache wegführen, hin zu einem Gefühl der Erleichterung und des Friedens. Vergebung bedeutet, dass wir den Zorn und andere negative Gefühle loslassen, dass wir die Ereignisse, die den Zorn ausgelöst haben, akzeptieren. Unsere Wünsche oder Fantasien, in denen es um Heimzahlung und Rache geht, ersetzen wir dann durch den guten Willen oder zumindest durch Akzeptanz gegenüber der Person, die uns Unrecht zugefügt hat. Dabei profitiert die Person, die zu vergeben lernt, von einer deutlich spürbaren Entlastung durch negative, feindselige Gefühle und von einer Abnahme an quälenden Grübeleien. Außerdem erlebt sie oft eine körperliche Entspannung und eine Zunahme an Wohlbefinden.

Um vergeben zu können, ist es erforderlich, dass man willens ist, starke negative Gefühle wie Wut oder Traurigkeit zuzulassen und anzuerkennen. Der eigentliche Kern des Vergebens ist, dass man seine Sicht des Übeltäters verändert, indem man ein gewisses Verständnis für ihn oder sie als Person entwickelt. Manchmal ist es auch erforderlich, dass gewisse zwischenmenschliche Bedürfnisse losgelassen werden, die durch die betreffende Person nicht erfüllt worden sind. Die Veränderung der Sichtweise vom Übeltäter, die schließlich Vergebung ermöglicht, kann manchmal dazu führen, dass sich auch festgefahrene Denkmuster und automatisierte Bewertungen aufweichen und verändern.

Sharon Lamb nennt gewisse Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit man jemandem vergeben kann. So ist es notwendig, dass man die Realität der erlittenen Verletzung vollständig anerkennt, weitgehend auf Selbstvorwürfe verzichtet und diese durch liebevolle Selbstzuwendung ersetzt, die Wut gegenüber dem Übeltäter möglichst ohne innere Abwehr zulässt, sich nicht ausschließlich als Opfer erlebt, sondern gegenüber dem Übeltäter eine aktivere und selbstbestimmtere Haltung einnimmt; es ist erforderlich, dass man sich von der Möglichkeit, dem Übeltäter vergeben zu können, eine berechtigte Zunahme an Lebensfreude erhofft und den Übeltäter als komplexen Menschen betrachtet statt stereotyp als bösen »Unmenschen«.



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